Quelle: istock/Galeanu Mihai
Kleine Teile – große Probleme: Die Halbleiterkrise in der Automobilindustrie
Sie sind winzig klein und mit dem bloßen Auge nicht zu sehen, doch ihre Bedeutung für unseren Alltag ist enorm groß. Die Rede ist von Halbleitern. Schon seit einiger Zeit geistert das Schlagwort „Halbleiterkrise“ durch die Automobilbranche, aber auch durch andere Wirtschaftszweige. Doch was sind Halbleiter überhaupt? Welche Bedeutung haben sie für die Automobilbranche? Und hat sich die Lage mittlerweile verbessert? Erfahren Sie in diesem Blog mehr über die kleinen Teile, die so große Probleme bereiten.
Was sind Halbleiter?
Im Bereich der Elektronik gibt es drei Leitertypen, die dafür sorgen, dass Strom fließt bzw. nicht fließt. Metalle stellen die klassischen Leiter dar, Kunststoffe und Keramiken wiederum sind Beispiele für sogenannte Isolatoren, die nicht leiten. Halbleiter, wie z.B. Silizium, weisen sowohl Eigenschaften von Leitern als auch von Isolatoren auf. Durch die Veränderung äußerer Einflussfaktoren wie der Temperatur verändert sich die Leitfähigkeit des Halbleiters. Die genaue Beschreibung der chemischen Abläufe möchte ich Ihnen an dieser Stelle nicht zumuten (was nicht etwa mit dem chemischen Halbwissen des Autors zusammenhängt), doch das Prinzip wird klar: Die Leitfähigkeit von Halbleitern kann beeinflusst werden, wodurch sich Steuermöglichkeiten mit großem technischem Potenzial ergeben. Aus mehreren Halbleitern können Transistoren gebaut werden. Diese lassen sich in ein binäres System integrieren, sodass ihre Leitfähigkeit mittels Einsen und Nullen dargestellt werden kann. In einem weiteren Schritt entstehen daraus vereinfacht gesagt Mikrochips (Prozessoren), die Daten speichern und Befehle befolgen können. Da diese Chips zum größten Teil aus Halbleitern bestehen, werden die beiden Begriffe häufig synonym genutzt.
Die Evolution der Halbleiter
Um die Bedeutung der heutigen Mikrochips und ihrer Rechenpower besser einordnen zu können, lohnt es sich, einen Blick auf die Mondlandung zu werfen. Die Mondlandung, ein zentrales Ereignis der Menschheitsgeschichte, gelang aufgrund technischer Innovationen. Eine davon waren Prozessoren. Doch die Entwicklung blieb seitdem nicht stehen. Mittlerweile hat sich die Rechenleistung dieser Kleinstbauteile enorm vervielfacht. Beispielsweise schafft der Prozessor eines iPhones XS rund 5 Billionen Rechenoperationen pro Sekunde; bei der Mondlandung kam der verwendete Prozessor lediglich auf 85.000. Das Potenzial, das moderne Mikrochips mit sich bringen, ist gewaltig. Ohne sie kommt kein digitales Gerät aus. Womit wir zur Bedeutung der Halbleiter für die Automobilbranche kommen.
Warum sind Halbleiter wichtig für die Automobilindustrie?
Die aus Halbleitern hergestellten Chips sind in jedem Fahrzeug verbaut und das gleich mehrfach: Jedes elektronische Assistenzsystem greift auf Chips zurück, aber auch Antrieb, Bremssysteme und Bauteile wie Scheibenwischer benötigen Chips. In Zukunft werden die Autobauer noch mehr Halbleiter brauchen als je zuvor. Dies hängt zum einen mit der Fortentwicklung des Infotainments und zum anderen mit den modernen Assistenzsystemen zusammen. Letztere wandeln sich im Kontext der Entwicklung von hochautomatisierten bzw. autonom fahrenden Autos zu komplexen Systemen, die noch mehr Rechenkraft und deshalb noch mehr Chips erfordern. Allein die verschiedenen notwendigen Kameras, lidar-Systeme und Sensoren, die in autonomen Fahrzeugen verbaut sind, benötigen eine Vielzahl an Chips.
Der Einfluss der Elektromobilität auf die Halbleiterkrise
Auch die sich stetig weiterentwickelnde Elektromobilität, die immer mehr Marktanteile übernimmt, hat Einfluss auf die Halbleiterkrise. So sind Chips unabdingbare Komponenten für die Ladestationen, Wechselrichter und Batterien. Die Anzahl der in einem E-Auto verbauten Halbleiter ist doppelt so groß wie die in einem herkömmlichen Verbrenner. Während es beim letzteren etwa 600 Halbleiter sind, zählt ein E-Auto etwa 1.300, so Experten der P3 Group. In Zeiten des Mangels ist dies ein schwerwiegendes Problem für die zukunftsweisende Sparte und die Produktion der richtungsweisenden Fahrzeuge, die großen Anteil an der Verkehrswende haben sollen.
Warum gibt es keine Halbleiter?
Wie bei vielen anderen wirtschaftlichen Problemen liegt die Ursache für die Halbleiterkrise in der Corona-Pandemie. Als sich das ganze Ausmaß der Pandemie für die Wirtschaft abzeichnete, prognostizierten Autobauer eine geringere Abnahme von Neuwagen. Um die negativen Folgen abzufedern, drosselten sie ihre Produktion und stornierten ihre Halbleiterbestellungen. Die düsteren Prognosen sollten sich aber nicht bestätigen und die Nachfrage deutlich positiver ausfallen als erwartet. Das Problem: In der Zwischenzeit hatten andere Branchen, allen voran die Unterhaltungselektronik (Stichwort „Homeoffice“), die freigewordenen Kapazitäten der Chiphersteller genutzt und Bestellungen in großem Umfang getätigt. Die Neuwagenproduktion stockte erneut, diesmal, weil keine Chips zur Verfügung standen. Allerdings traten in der Folge weitere Faktoren hinzu, die die Halbleiterkrise verschärften bzw. verlängerten. Da wären beispielsweise die politischen Spannungen mit China, dem Produktionsland Nr. 1 von Silizium. Verstärkend hinzu kommt die fragile Lage des Seetransports: In vielen Industriehäfen stauen sich die Transportschiffe, weil das Personal zum Entladen bzw. zum Weitertransport fehlt oder die Terminals wegen der Pandemie geschlossen wurden. Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Halbleiterproduktion ebenfalls empfindlich getroffen, da beide Länder wichtige Exporteure von Neon und Palladium sind; beide Elemente sind unabdingbar für die Halbleiterproduktion. Die Wertschöpfungskette funktioniert nicht mehr, die Autoproduktion steht immer wieder still.
Wann sind Halbleiter wieder verfügbar?
In dieser Frage sind sich die Expertinnen und Experten uneins und bewerten die Aussichten der kommenden Monate unterschiedlich. Sprecher der Beratungsgesellschaft Ernst & Young prognostizieren beispielsweise, dass sich die Versorgung mit Halbleitern in den nächsten Monaten zusehends stabilisieren und normalisieren wird. Andere Einflussfaktoren wie die Energie- oder die Logistikkrise würden aber weiterhin negative Auswirkungen auf die Autoproduktion haben. Andere Experten sehen ebenfalls eine momentane Entspannung auf dem Markt, bewerten die Zukunftsaussichten aber deutlich negativer. Karsten Schnake (Skoda) zufolge bleibt die Situation in den nächsten Jahren angespannt und krisenanfällig. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt die Unternehmensberatung AlixPartners. In ihrer Studie kommen sie zu dem Ergebnis, dass auch 2024 noch ein Mangel an Chips herrschen wird. Als Hauptursache machen sie den sukzessive steigenden Bedarf an Chips in E-Autos aus, die schon jetzt deutlich mehr Chips erfordern als Autos mit Verbrennungsmotoren. Zudem produzieren die Chiphersteller laut AlixPartners vor allem Prozessoren für andere Branchen und nicht solche, wie sie die Automobilindustrie benötigt.
Die neue Strategie der Autobauer
Um die finanziellen Verluste, die durch die Halbleiterkrise drohten, abzufedern, verbauten die Autobauer ihre rar gewordenen Chips hauptsächlich in margenstarken Autos. Auf diese Weise verkauften die Konzerne zwar weniger Autos, dafür aber teure Autos mit großer Gewinnspanne. Mit den aktuell verfügbaren Halbleitern ist diese Strategie obsolet geworden. Um für die nächsten Engpässe besser gewappnet zu sein, haben die Automobilkonzerne bereits mit einer strategischen Neuausrichtung begonnen. Anstatt Halbleiter über diverse Zulieferer zu kaufen, schloss beispielsweise Ford einen Vertrag mit GlobalFoundries ab und kauft die Chips sozusagen ab Werk. Ähnliche Pläne verfolgt auch General Motors.
Begehrte Partner: Die Halbleiterproduzenten
Die Chiphersteller avancierten in den vergangenen Monaten zu umworbenen Premiumpartnern. So konnte beispielsweise das Unternehmen Qualcomm Kooperationsgeschäfte mit BMW, Cariad (VW-Tochter), General Motors und Honda abschließen; NVIDIA vereinbarte wiederum die Zusammenarbeit mit Mercedes. Ziel dieser Kooperationen ist zum einen die Sicherstellung des eigenen Bedarfs der begehrten Chips, zum anderen die gemeinsame Entwicklung von passgenauen und auf die jeweiligen Fahrzeuge abgestimmten Chips. Der Fokus liegt vor allem auf sogenannten System-on-a-Chip (SoC). Dabei handelt es sich um Mikrochips, die gleich mehrere Rechenaufgaben übernehmen können. Außerdem sind sie programmierbar und für die komplexen Rechenaufgaben der künstlichen Intelligenz unabdingbar. Als zentrale Bausteine der zukünftigen Fahrzeuggenerationen kann ihr Wert für die Autoindustrie kaum hoch genug eingeschätzt werden. Kein Wunder also, dass sich die Autobauer um eine enge Zusammenarbeit mit den Chipherstellern bzw. den Entwicklern bemühen.
So reagiert die Politik auf die Halbleiterkrise
Die Halbleiterkrise und die weltweiten Lieferkettenprobleme haben auch den politischen Verantwortlichen schonungslos vor Augen geführt, wie abhängig die heimische Wirtschaft vom asiatischen Markt ist. Neue Konzepte und Strategien sind daher die Folge: 2021 vereinbarten Deutschland und Frankreich, im Bereich der Halbleiterproduktion eng zusammenzuarbeiten. Sie wollen ein „Important Project of Common European Interest“ initiieren, um den europäischen Markt aus der Abhängigkeit Asiens zu lösen. Zudem plant Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, die Halbleiterproduktion in Deutschland mit zehn Milliarden Euro zu fördern. Weitere Investitionen kommen von der EU, die sich Anfang des Jahres auf den „European Chips Act“ geeinigt hat und insgesamt 43 Milliarden Euro bereitstellt. Vor diesem Hintergrund sind auch die neuesten Bemühungen von Großkonzernen zu sehen, neue Fabrikanlagen zu errichten: Der US-Konzern Intel, einer der größten Produzenten von Mikrochips, will mit einer neuen Fabrik in Magdeburg das „Epizentrum“ der europäischen Halbleiterindustrie erschaffen, so die Personalchefin Pambianchi in einem Interview mit der ZEIT. Auch Bosch will die Förderungen für den Ausbau seiner Halbleiterproduktion und ‑forschung in Dresden und Reutlingen nutzen. Insgesamt sollen bis 2026 drei Milliarden Euro in die beiden Standorte fließen.
Ausblick
Die Corona-Pandemie und Transportschwierigkeiten, der Rohstoffmangel und die politischen Spannungen sorgen weltweit für wirtschaftliche Einbußen. Die Halbleiterkrise ist nur eine von vielen, doch sie führt uns das fragile Lieferkettensystem der Globalisierung besonders deutlich vor Augen. Ob die Neuausrichtung der europäischen Konzerne und Staaten auf heimische Chipproduktion schnell genug greift, bevor die nächste Halbleiterkrise beginnt, bleibt abzuwarten. Erste Stimmen werden laut, dass der Investitionsumfang für diesen kapitalintensiven Markt nicht ausreicht. Wie die weitere Marktentwicklung ausfällt, lässt sich kaum vorhersagen. Eins jedoch steht fest: Die Halbleiter bestimmen unseren Alltag und unsere Wirtschaft. Ihr Mangel offenbart unsere Abhängigkeit von hochmoderner Technik. Und mit der zunehmenden Digitalisierung wird diese Abhängigkeit noch weiter steigen. Wie gut wir durch die nächste Krise kommen, wird sich zeigen. Aber Kopf hoch, das wird schon werden – mit deutlich einfacher Technik haben wir es schließlich schon auf den Mond geschafft.